75 Jahre METALL NRW Festschrift

War ja nicht immer so. Es ist erst vier Jahre her, da beließen es die Arbeitgeber keineswegs bei Regalwörtern. Arndt Kirchhoff sagte in der SZ nach einer Tarifrunde, die Zeiten zwischen den Arbeitgebern und der IG Metall würden „eindeutig ruppiger“. Nicht nur der Frieden mit der Gewerkschaft, sondern auch der „unter den Arbeitgebern“ müsse wiederhergestellt werden. Es bestand Anlass, sich allmählich Sorgen um die Tarifautonomie zu machen. Denn falls sich auf einer Seite der Eindruck ausbreitet, Tarifbindung koste mehr als sie bringe, falls ein Betrieb nach dem anderen daraufhin nicht nur erwägt, den Tarifverband zu verlassen, sondern dies auch vollzieht: Dann ändert dies zwar nichts daran, dass in Deutschland weiterhin Tarifautonomie gilt – sehr viel aber an deren Gehalt. Einen Arbeitgeberverband, in dem nur noch Kirchhoff, Kannegiesser und ein paar andere an den Tarif gebunden sind, braucht man ungefähr so dringend wie Schalke oder Bielefeld einen Torwart, der 1,69 Meter groß ist. Ob die Zeiten nun auf Dauer oder nur vorübergehend wieder weniger ruppig geworden sind? Not schweißt zusammen; so war es nach der Finanzkrise, so scheint es auch jetzt zu sein: Die Leute haben genug Sorgen, man muss es nicht auch noch in Tarifrunden zum Äußersten treiben. Wer sich anschaut, wie erbittert und mit welchen Mitteln die Gesellschaft in Frankreich ihre Auseinandersetzungen führt, der wird seine Kontrahenten bei der IG Metall kaum eintauschen wollen. Dem wird auch auffallen, wie tief das Bedürfnis nach Konsens bei den Deutschen sitzt. Im Frühjahr, während der Streiks im öffentlichen Dienst, brachte die SZ ein Interview mit einem Vater, der im Gesamtelternbeirat für die Münchner Kitas sitzt. Seine Antworten: klassisches deutsches Bürger-Repertoire. „Wir kritisieren diese ritualisierten Abläufe aus dem 19. Jahrhundert.“ – „Warum können sich beide Seiten nicht ohne Streik einig werden?“ Als Franzose wäre der Mann komplett ungeeignet. Tarifautonomie braucht Streiks. Keine politischen Streiks wie in Frankreich bei der Rentenreform, bei denen dann auch noch ein Rathaus brennt oder die Polizei mit Tränengas anrückt. Streiks im hier üblichen Maß sind kein Werk der Zerstörung, sondern sie dienen der Selbstvergewisserung der Beschäftigten, der Mitgliederwerbung der Gewerkschaften, der Demokratie in den Betrieben und damit der Demokratie insgesamt. Politische Streiks, Generalstreiks gar, sind stets ein Indiz für Ohnmacht. Wo sie als Mittel der Wahl gelten, steht es auch um die Demokratie insgesamt nicht immer gut. 89 75 Jahre METALL NRW AUS JOURNALISTISCHER PERSPEKTIVE

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