75 Jahre METALL NRW Festschrift

107 75 Jahre METALL NRW AUS JOURNALISTISCHER PERSPEKTIVE eine reine Provokation“ samt Streikdrohungen von der anderen Seite. Es musste womöglich erst einer beim Versuch, mit dem Kopf durch diese Betonwand zu stoßen, sich derart selbst lädieren, um die so lange eingeübten und gepflegten Rituale zu hinterfragen. Insofern: vielen Dank, Jürgen Peters. Die ersten Erinnerungen an die Metall-Tarifatmosphäre im NRW des 21. Jahrhunderts stammen aus den Vorab-Hintergrundgesprächen 2007ff.: Vier-Gänge-Menü bei der IG Metall mit Rotweinberatung vom Gewerkschaftschef Detlef Wetzel, Bier und Mettbrötchen an der Theke mit Arbeitgeber-Präsident Horst-Werner Maier-Hunke. Und hier wie dort leise, bedachte Töne statt Kampfgeschrei. Verkehrte Welt also. Die Pressestatements lasen sich nach vertagten Verhandlungsrunden zwar so giftig wie früher, aber wer einmal mit den Protagonisten gesprochen hat, wusste: Das ist nur noch Fassade, ein Rollenspiel für uns Journalisten, auf dass wir es mitspielen, um die Arbeiter in Streiklaune zu bringen bzw. die Unternehmer glauben zu machen, ihre Verhandlungsführer würden keinen Deut nachgeben. Mit jedem Jahr wuchs das Erstaunen über die Brauchtumspflege nach außen – und den Beginn der Tarifmoderne nach innen. Kein Hintergrund, in dem nicht die Probleme und Motivlage des anderen reflektiert wurden. Sehr bald schon wurde der Gesprächskulturwandel dringend gebraucht, der neue Pragmatismus auf beiden Seiten sollte entscheidend dafür sein, dass Deutschland besser aus der Weltfinanzkrise 2008/09 kam als jedes andere westliche Industrieland. Das Metall-Modell der Kurzarbeit wurde Bundesgesetz und half auch anderen. Die Metall-spezifische Losung „Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich für Arbeitsplatzgarantien“ markierte eine Wende in der Tarifpolitik: In Zeiten wachsenden Fachkräftemangels kam der Wert jedes einzelnen Beschäftigten für sein Unternehmen zu den klassischen Tariffaktoren Arbeitszeit, Lohn, Produktivität und Konjunktur hinzu. Eine Überschrift wie „Kannegiesser hält 26-Stunden-Woche für sinnvoll“ wäre der „Welt“ zuvor niemals in die Zeile gekommen. Und der „taz“ nicht diese: „Lohnsenkungen sollen Kündigungen verhindern“. Der gesellschaftlichen Wertschätzung der Tarifpartnerschaft hat das einen Schub gegeben: Was zuvor gern als Bremsklotz für die Industrie hingestellt wurde, half im ver-

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